Christian Grüny
Verfremdung und Verantwortung
Dimensionen des Experimentellen in der Musik
Es ist naheliegend, die Improvisation als den eigentlich experimentellen Teil der Musik zu verstehen. Gerade im Gegensatz zur Komposition scheint Improvisation die Verkörperung des Offenen und der Inbegriff des Experiments zu sein. Mit ihr verbinden sich Hoffnungen wie die des Ausbruchs aus eingefahrenen Bahnen, aus verkrusteten, beengenden Strukturen in eine ungeahnte, nicht abzusehende Freiheit – eine „einlösbare Utopie".
Daß die frei improvisierenden Musiker den Begriff des Experimentellen vielfach nicht sonderlich schätzen, hängt wohl mit zweierlei zusammen: zum einen mit der Assoziation des nicht ganz Ernstzunehmenden, die ihm anhaftet, zum anderen mit seiner Verbindung mit dem des Neuen.
Fälle einer Musik, in der die Improvisation sozusagen für das zuständig ist, was die Komposition ihr übrigläßt, lassen sich in der westlichen Musik in großer Zahl finden. Ein Beispiel sind die Kadenzen, die dem Solisten einen eigenen, klar umgrenzten Gestaltungsraum bieten, in dem er seine Virtuosität unter Beweis stellen kann; ein weiteres die wechselnden Solopartien im klassischen Jazz. Freiheit ist in beiden Fällen in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt: zuerst einmal durch die zeitlichen Grenzen, innerhalb derer die Improvisation stattfinden kann, und dann durch das weiterlaufende harmonische Gerüst des jeweiligen Stückes, innerhalb dessen sich der Soloist halten muß. Zusätzlich dazu ist das Material, mit dem er arbeiten kann, in der Regel auf ein Repertoire an klassischen Wendungen eingeschränkt, die er mehr oder weniger originell variieren und kombinieren kann – Verteidiger der Improvisation sprechen von „patterns“, Kritiker von „Klischees“. Im Zentrum steht hier denn auch weniger die Offenheit des Experimentellen als vielmehr die Zurschaustellung von Virtuosität und Originalität und, im Jazz, die Authentizität des Ausdrucks. pdf