02.01.2013

Profitdenken


Aus: Wolfgang Martin Stroh, Zur Soziologie der elektronischen Musik Amadeus-Verlag, Zürich 1975

Primär dient Musik heute als eine Form von Ideologie bzw. als Vermittler gesellschaftlicher Funktionen, die dabei systematisch und raffiniert verschleiert oder verfälscht werden, der Reproduktion falschen gesellschaftlichen Bewußtseins. Diese Eigenschaft besitzt die Musik auch dann, wenn sie beispielsweise "handwerklich" hergestellt und in keiner Weise unmittelbar unter das Kapital subsumiert ist. Wo dieser ideologischen Funktion ökonomische Produktionsverhältnisse eingepaßt werden können, gelten - dann aber sekundär - die kapitalistischen Kategorien wie die Profitmaximierung unmittelbar innerhalb der musikalischen Produktion. Lassen sich aber ökonomische Kategorien nicht einpassen, so kann daraus noch nicht geschlossen werden, daß diese musikalischen Erscheinungen in irgendeiner Weise bereits "kritisch" zur kapitalistischen Gesellschaft oder gar außerhalb ihres Einflußbereiches stehen.

Profitdenken wirkt auf die musikalische Produktion in doppelter und widersprüchlicher Weise zurück. Einerseits passen sich Komponisten auf längere Sicht gegebenen musikalischen Produktionsverhältnissen an, die in einem mehr oder weniger stabilen Gleichgewicht zum Profitinteresse stehen. Dies gilt nicht nur heute für elektronische Komponisten, die sich an den von der Elektroindustrie vorgezeichneten Bedingungen und Möglichkeiten zu orientieren haben, sondern schon für unprofitable Extremfälle wie Anton Webern, der angesichts der Aufführungsmöglichkeiten seiner Werke auch Symphonien und Konzerte für Kammerensemble geschrieben und auch sonst kleine Besetzungen bevorzugt hat. Andererseits kann aber gerade auch ökonomisch errechneter Mißerfolg zu einem Künstlerethos ideologisch stilisiert werden, so daß schließlich der eigentliche Erfolg im Mißerfolg gesehen wird (was freilich bei Strafe des Hungertods irgendeine materielle Basis voraussetzt); so sagt beispielsweise Schönberg im Frühjahr 1910: "Ich will zugeben, daß mir dieser Erfolg gegenwärtig noch fehlt, weil er fehlen muß, wenn meine Sache so gut ist wie ich glaube" (Arnold Schönberg: Briefe, hg. von E. Stein, Schott Mainz 1957, S. 24).

Das erste Kapitel der "Zur Soziologie der elektronischen Musik" enthält eine allgemeine Abhandlung über den Warencharakter von Musik und Musikproduktion. Dabei wird die Kategorie "Ware" losgelöst vom Kommerziellen und als "prinzipiell bürgerliche Kategorie" mit den Phänomenen "Kunstwerk", "Komponist", "Fortschritt" und "Musikkritik" in Verbindung gebracht. Der Text entstand in Seminaren zur Musiksoziologie am Musikwissenschaftlichen Institut Freiburg 1972 bis 1973. Das Buch fand im angloamerikanischen Raum und in der Schweiz ein freundliches Echo, blieb in der BRD weitgehend unbekannt.