15.01.2013

Medienutopien


In den sowjetischen Montagefilmen der Zwanziger Jahre entdeckte Walter Benjamin eine radikale Neuerung: Es gab in diesen Filmen keine klassischen "Helden", jedes einzelne Mitglied des Kollektivs konnte in diesen Filmen sein Recht auf Reproduziertwerden beanspruchen, sei es in seinem Arbeitsumfeld, sei es beim revolutionären Kampf. So müßten Filme in einer Gesellschaft aussehen, in der die Produktionsmittel in Hand der revolutionären Massen seien. Gleichzeitig interessierte sich Bertolt Brecht für das noch jüngere Medium des Radios. Er befand es für einseitig, im wahrsten Sinne, und stellte folgende Forderung: "Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein öffentliches Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zusetzen."

Diese beiden Visionen, das Recht auf Reproduzierbarkeit jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft und die Verwandlung des Radios in einen Kommunikationsapparat, sind heute Wirklichkeit geworden. Es besteht kein struktureller Unterschied mehr zwischen dem Computer, der eine Information produziert, und einem Computer, der diese Information empfängt. Die eindeutige Sender-Empfänger-Relation, die in den bisherigen Instrumenten Schreibmaschine - Zeitung, Mikrophon - Radio, Kamera - Fernseher bestanden, sind aufgehoben. Doch wer nun denkt, wir würden damit automatisch in einer besseren Gesellschaft landen, hat sich geschnitten. Die Medienvisionäre, die ihre hohen Erwartungen an das Internet knüpften, die 68er, die die "proletarische Öffentlichkeit" (Kluge/Negt) und einen "emanzipatorischen Mediengebrauch" von den neuen Medien erwartet hatten (Enzensberger), sitzen in der Ecke und schmollen. Der Grund dafür ist, daß sich die neuen Medien unter kommerzorientierten bürgerlichen Bedingungen entwickelt haben. Der kapitalistische Medienbetrieb ist ein mächtiger und flexibler Mechanismus, der ohne Probleme potentiell emanzipatorische Medien vereinnahmen kann. Jeder Mensch hat heute ein Recht auf seine technische Reproduzierbarkeit. In Talk-Shows werden "ganz normale" Menschen präsentiert, ihr Normalsein stellt geradezu ihren Austellungswert dar. Und trotzdem ist in diesen Sendungen nichts Emanzipatorisches. Das Klientel dieser Sendungen, meist aus Kleinbürgertum und Unterschicht rekrutiert, reproduziert hier unaufgefordert Klischees der Leistungsgesellschaft und hackt aufeinander rum, anstatt Fragen nach den Ursachen ihrer gemeinsamen Misere zu stellen. Genauso ist heute der Unterschied zwischen Sender und Empfänger potentiell aufgehoben. Durch den immer weiter verbreiteten Zugang zum Internet kann jeder seinen Beitrag - theoretisch - an ein Millionenpublikum richten. Und trotzdem ist am Internet wenig Emanzipatorisches. In seiner rasanten Verbreitung hat es lediglich die kapitalistischen Bedingungen der Gesellschaft in sich hineinkopiert, nach einer euphorischen Pionierphase wird es heute zum großen Teil von Konzernen dominiert.
Quelle: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/kombo/k_46/k_46indym.htm