15.08.2012

Keine Experimente


«Organized Sound» – «Gestalteter Klang» nennt Edgard Varèse ab einem sehr frühen Zeitpunkt sein musikalisches Schaffen. Zunächst vielleicht einfach nur, um den lästigen Anfeindungen auszuweichen,  denen seine Werke von Anfang an ausgesetzt waren: ob denn das überhaupt noch Musik zu nennen sei, ob das nicht bloß Lärm sei etc. (Man kennt das. Ästhetische Ressentiments sind unheilbar. Sie wurzeln  tief in verborgenen Schichten der Seele, da greift keine Argumentation.) «Lärm ist jeder Klang, den man nicht mag», kommentiert Varèse das später lakonisch. Anders als bei den Futuristen, mit denen er gelegentlich verglichen wird, hat man bei Varèse allerdings nicht den Eindruck, dass sich hier ein bildender Künstler in naiver Radikalität auf dem Terrain der Musik versucht (Varèse verwehrt sich gegen diese Gleichsetzung). Im Gegenteil: Er kehrt den ureigenen bildnerischen Aspekt des Musikschaffens selber hervor und erkennt mit untrüglichem Instinkt, dass die neuen Technologien, die elektronische Klangerzeugung sowie die Speicherung und Bearbeitung aller Arten von Klang, diesem bildnerischen Ansatz ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. «L’art acousmatique» – «akusmatische Kunst» wird das ab den 50er Jahren in Paris genannt, wohl aus ähnlichen Günden: Um die aufgeregten Traditionalisten zu beruhigen, indem man ihrer sakrosankten Definition des Musikalischen nicht zu nahekommt. Auf den Dichter Guillaume Apollinaire geht das Wort angeblich zurück, Pierre Schaeffer hat es übernommen und François Bayle hat es in den 70er Jahren, wie er selber sagt, wieder aufgegriffen, um die phänomenologische Eigenständigkeit der Klanggestalten («akusmata») hervorzuheben. Wir können nun «Klänge hören, die keine physische Existenz haben, autonome Klänge, und so eine erweiterte Wahrnehmung der Welt des Klanglichen erleben ... Klänge ohne Körper, ohne vorangehende Ursachen, Klänge, deren Ursache nicht flussaufwärts, sondern gleichsam flussabwärts in ihrem Kontext gesucht werden muss». Vom «Klangobjekt» («objet sonore») ist immer wieder die Rede. Damit sind nicht Dinge gemeint, aus Holz oder Draht oder Blech, mit denen sich Töne und Geräusche erzeugen lassen, es sind die Klänge selbst, die Schwingungen, die mit einem Mal ihren Anspruch auf Realität geltend machen. Welche Herausforderung für das musikalische Schaffen! Welche Perspektive für die akustische Wahrnehmung, das Hören! Auf die Komponisten Mitte des 20. Jahrhunderts muss das umwerfend gewirkt haben. Kaum einer, der sich dieser Aufbruchsstimmung anfänglich entziehen konnte; kaum ein heute namhafter Instrumentalkomponist, der aus dieser Zeit nicht wenigstens ein Tonbandstück aufzuweisen hat. (Man sehe sich nur die Kataloge der experimentellen Produktionsstudios in den 50er Jahren an: Paris, Köln, Warschau, Wien…) Nicht alle hatten freilich den Mut, die Bequemlichkeit eines gesicherten musikalischen Weltbildes dafür aufzugeben; und noch weniger das Durchhaltevermögen, auf den neuen Produktions- und Aufführungsformen gegen jeden gesellschaftlichen Widerstand zu bestehen.

Man sollte auch nicht vergessen, dass die Komponistenverbände – um zu verhindern, dass die Orchester «unnötig» werden – sofort eine niedrigere Tantiemeneinstufung für elektronische Musik durchgesetzt haben, die bis heute wirksam ist!

«Das Rohmaterial der Musik ist Klang. Das ist es, was viele Leute aus Ehrfurcht vor der Tradition vergessen haben – sogar Komponisten. Der Komponist ist noch immer von Traditionen besessen, die nichts weiter sind als die Beschränkungen seiner Vorgänger.» (Edgard Varèse)

(Quelle: http://eap.form.at/_docs/Akusmatik.pdf)